Kopf vs. Gefühl

I.

In den letzten Wochen hab ich weniger geschrieben als sonst. Was mich beschäftigt hat, war noch wort-los. Ich musste mich zurückziehen und ordnen. Denn ich habe realisiert, dass mein kluger Kopf mich gerade nicht weiterbringt. Ich finde das schwer zu akzeptieren. Mein Kopf ist so ein sicherer Gefährte, er schützt mich davor, zu viel Angriffsfläche zu bieten, indem er abwägt und auf Nummer sicher geht. Er baut eine Mauer aus klugen Sätzen um meine Verletzlichkeit. Das kann er richtig gut. Aber er hat mir auch jahrelange Umwege beschert, Entscheidungen erschwert, Chancen plattgewalzt. Aus Angst davor, etwas Falsches zu tun. Ich will diese Angst ablegen.

Ich kann das Meer nicht zählen, ich kann die Liebe nicht messen, ich kann meine Kunst nicht benoten.

In meinem Herz hingegen finde ich mein eigenes Falsch und Richtig, eine klare Intuition und viel Selbstbewusstsein. Es fällt mir immer noch schwer, ihm ganz zu vertrauen. Das hab ich nicht gelernt. Nun, ich lerne. Vieles kann ich schon gut. Manches muss ich noch üben. Vor allem jenes: dass ich mich nicht rechtfertigen muss. Dass ich meinem Gefühl vertrauen kann. Muss! Dass mein Intellekt nicht mehr wert ist als mein Gefühl.

Ich kann schwimmen, ich kann lieben, ich kann schreiben und singen.

II.

Mein Kopf hat immer gut funktioniert, sich angepasst, abgeliefert, Sprachen gelernt und Matheaufgaben gelöst. Ich bin überhaupt erst mit 20 draufgekommen, dass ich auch einen Körper da unten dran hab. Eine Logopädin hat mich drauf aufmerksam gemacht. Mein Kopf hatte nämlich auf einen Arzt gehört, der sagte: du kannst nicht singen, deine Stimmbänder geben das nicht her. Und dann haben wir also Philosophie studiert, mein Kopf und ich, das war ja auch interessant und alles.

Ich kann das Meer nicht zählen, ich kann die Liebe nicht messen, ich kann meine Kunst nicht benoten.

Immerhin hat mich der idiotische HNO dieser tollen Logopädin in die Arme getrieben. Denn meinem Gefühl war immer klar: ich will singen.Und wenn es mich verletzlich oder angreifbar macht, dann ist es gut. Ich war immer schon am stärksten, wenn ich verletzlich und angreifbar war: auf der Bühne, singend. Und ob alle gebannt zugehört haben oder sich niemand dafür interessiert hat: wenn ich gut war, weil ich ganz in mein Gefühl gegriffen und es eins zu eins wiedergegeben hab, hat es mich glücklich gemacht.

Ich kann schwimmen, ich kann lieben, ich kann schreiben und singen.

III.

Ja, wir brauchen Unterscheidung, Analyse, in Zahlen festgemachte Erkenntnisse, um die Komplexität der Welt zu verstehen. Ich liebe menschliche Klugheit, Bedachtheit, Kritikfähigkeit. Ich liebe meinen Kopf, er ist so verlässlich und sicher. Nur sind Lebensentscheidungen keine wissenschaftlichen Arbeiten. Und solange man glaubt, die Zukunft durch die eigene Vernunft kontrollieren zu können, steckt man fest. Die Dinge in meinem Leben, die mir am wichtigsten sind, meine Musik und meine engen Beziehungen, hab ich meinem Gefühl zu verdanken. Und es war gut.

Ich kann das Meer nicht zählen, ich kann die Liebe nicht messen, ich kann meine Kunst nicht benoten.

Ich will keine Sicherheitstüren mehr einbauen, die mich vor der Kritik meines Kopfes schützen. Ich will meinem Gefühl folgen, auf die Gefahr hinauf, dass das, was dabei rauskommt, angreifbar ist.

Ich kann schwimmen, ich kann lieben, ich kann schreiben und singen.

Comments: 2

  • Markus

    Antworten 12/04/202108:31

    … und wie du singen kannst … !

    Objektiv, also nach Kriterien benoten kann ich deine Musik auch nicht. Aber im Fühlen, also im Wirklichen, da kann ich sagen: sehr gut, sehr gut, sehr gut, ganz wunderbar ist deine Musik!

    (Und daher immer wieder: Danke dafür!)

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