Tage, Wochen, Monate

©Helena Wimmer www.helenawimmer.com

Ich hab gerade gesehen, dass ich in meinem letzten Eintrag geschrieben hab: „mehr schreib ich später“. Nun ist es ziemlich viel später geworden..

„Dieser Tage hab ich kurze Nächte, meine Gedanken gehen im Kreis, ich prüfe neu, was ich schon weiß.“

So beginnt „Ein Schritt Nach Dem Anderen“.

Das, was ich zu wissen geglaubt habe, ist brüchig geworden dieser Tage. Wahrscheinlich könnt ihr das nachempfinden.

Als ich vor drei Wochen am Flughafen stand und mit der indischen Veranstalterin telefonierte, die meine Band und mich nach Bangalore gebucht hatte, konnte ich mir noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie sich der Umgang mit dieser Pandemie entwickeln würde. Dass die Schulen und Kindergärten vorübergehend geschlossen werden, wurde im Laufe dieses Tages klar. Dass wir nur noch mit Gesichtsmasken einen Supermarkt betreten dürfen, war noch unvorstellbar. So schreitet die Verschiebung der Realität, wie wir sie für möglich gehalten haben, voran, und ich habe aufgehört zu glauben, irgendetwas richtig einschätzen zu können. Einige verschiedene emotionale Phasen hab ich schon durchgemacht, und ich habe gestern abend beschlossen, euch (und mir selbst) die Chronologie dieser Tage aufzuschreiben.

Trauer

Ich war so traurig, nicht nach Indien reise zu dürfen, es hatte für mich den Anfang für eine neue Zeit markiert: die Zeit nach Album-Veröffentlichung, die Zeit der Konzerte, die Zeit der Freude an der Musik, der Verbundenheit mit meinem Publikum, die Zeit der Ernte nach den Jahren der Saat.

Wut

Abgesagte Konzerte und das Wegfallen von den Gagen, die meine offenen letzten Album-Rechnungen bezahlt hätten, tun weh. Allen, die am Album mitgearbeitet haben, und mir. Durch die Hilfe von Vater Staat rattere ich einfach durch, als kleine Selbstständige, die in den letzten zwei Jahren ins Minus gegangen ist, um dieses Album zu produzieren. So viel Wut.

Sorge

Wie soll das jetzt weitergehen? Die meisten Konzerte sind einfach abgesagt ohne klaren Ersatztermin. Manche haben einen Ersatztermin, der selbst wieder wackelt. Wird mein Album einfach in ein schwarzes Loch fallen und nicht gehört werden, weil ich ihm kein Gehör verschaffen kann, indem ich durch die Lande tingel und es allen vorsinge?

Zuversicht

Nein, das bedeutet nicht das Ende meines Musikmachens. Sicher nicht. Ich kann nicht anders, ich will nicht anders. Ich werde weiter Musik machen. Und ich weiß noch nicht, wie, aber ich weiß, dass. Auch wenn die Zeiten jetzt hart sind, habe ich liebe Menschen, die mir gerade Geld borgen, um Rechnungen zu bezahlen. Und irgendwann werde ich es wieder zurückzahlen können. Ein Schritt Nach Dem Anderen.

Neugier

Wie geht das? Wie geht diese Zeit? Werden wir unsere Welt neu ordnen können? Was lerne ich gerade? Was lernen meine Kinder? Was lernen wir als Gesellschaft? Und: Wie erstaunlich, dass wir Verbundenheit übers Internet spüren können. Ja, wir können.

Dankbarkeit

Es ist unmöglich zu übersehen, wie gut es mir geht. Mein Leben ist voll von Verbundenheit, Freude, Lebendigkeit, Schönheit. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Ich habe jeden Tag wieder etwas zu essen. Ich habe einen Mann, der eine natürliche Gabe für Pädagogik hat, und mit unserer Älteren mehrmals pro Tag das Einmaleins übt. Und nicht nur das: er zeichnet mit den Kindern Zahlenstrahle, Baum-Projekt-Plakate, und verschiedene Hasenohren. Er rechnet, schreibt, erklärt. Er ist ganz da.
Ich liebe und werde geliebt. Das ist das schönste Geschenk, das einem das Leben machen kann.

Staunen

wie die Welt sich ändern kann, wie anpassungsfähig die Menschen sind. Lernen sie jetzt, wie Frieden geht? Wie Umweltschutz geht? Wie Rücksicht geht? Wie Verbundenheit geht? Wie Solidarität geht? Wie ein menschenwürdiger Umgang mit Flüchtenden geht?
Leider (noch?) nicht in dem Ausmaß, in dem man sich das wünscht.
Wie kann ich helfen, unterstützen, mitarbeiten, an einer neuen Weltordnung? Es gibt Petitionen zu unterschreiben und Spenden zu geben. Es gibt Liebe zu verstrahlen und gute Gedanken und Zuversicht. Es gibt Aktivismus, aber wie? Wir werden es noch herausfinden. Die Welt hat gerade eine riesengroße Chance, hoffentlich lässt sie sie nicht verstreichen. Wenn jede und jeder von uns, die sich darüber bewusst werden, in ihrem Bereich mithilft, als Unternehmer*innen, Konsument*innen, Wähler*innen, Teilnehmer*innen am öffentlichen Leben, geht es dann? Wie viele sind wir? Genug? Ich weiß es nicht. Ich bin zuversichtlich und manchmal wieder verzweifelt.

„Ein Schritt nach dem Anderen, egal wie groß oder wie klein, Ein Schritt nach dem Anderen, und es muss immer nur der nächste sein!“


Also können wir nicht mehr gehen als den nächsten Schritt. Woraus der übernächste besteht, kann sich am nächsten Tag ja schon wieder geändert haben.

Es gilt, die Zuversicht in sich zu finden und zu schauen, wohin sie zeigt. Dafür könnten wir uns auf gute Nachrichten zu konzentrieren: wie viel Hilfsbereitschaft es gibt. Es gibt auch Angebote im Netz, von Kunst und Kunstvermittlung (zum Beispielt durch Simone Dueller) von Meditationen über hilfreiche Podcasts (zum Beispiel the Happiness Lab) bis zu online-Konzerten.

ok. Seid alle umarmt, virtuell.

Violetta

PS.: Ich habe übrigens beschlossen, in dieser Zeit, in der es mir schwer fällt, etwas zu schreiben, Lieder, die ich liebe, zu lernen und euch auf instagram hin und wieder vorzuspielen.

PPS.: Es gibt jetzt außerdem eine Youtube-Playlist mit allen Songs von Alles Bleibt

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