Du bist frei, endlich frei, du bist frei

„Frei“ wurde heute vor einem Jahr veröffentlicht. Das Lied ist mir nahe, es erschüttert mich immer noch, wenn ich es singe. Das liegt an der Geschichte, aus der es entstanden ist. Viele Menschen haben in ihrem Leben jemanden, dem sie gerecht werden wollen, und immer daran scheitern. Von so einer Beziehung handelt „Frei“.

Die Geschichte einer schwierigen Beziehung

Es war einmal eine über alles eigensinnige und faszinierende Frau, die mir sehr nahe war. Ich verbrachte viel Zeit mit ihr, war ihr Vertraute, Gesellschaftsdame, kritisches Gegenüber und Lesekreis. Sie war fast 60 Jahre älter als ich, hatte in einer Zeit, in der das als Frau noch außerordentlich war, aus eigener Kraft richtig Karriere gemacht. Sie war mir ein Vorbild, aber auch jemand, vor dessen Urteil ich Angst hatte. Nichts genügte ihr, es gab immer etwas zu kritisieren. Sie war so sicher, dass ihr Richtig richtig war, und ihr Falsch falsch. Ich war so abgelenkt von ihrer Sicherheit, dass es mir schwer fiel, meine Sicherheit zu finden. Meine Entscheidungen waren immer ein bisschen schwerer, wenn ich an sie dachte, weil ich wusste, dass sie ihr wahrscheinlich nicht gefallen würden. Sie liebte mich, auf ihre eigene ruppige Art, und wollte immer mein Bestes. Nur waren wir nicht einig darüber, was dieses Beste war. Für mich war es, draufzukommen, wer ich sein will. Für sie war es, mit aller Kraft und allem Fleiß in eine Richtung zu ziehen und die Beste zu werden. Geld, Status und Erfolg waren für sie eine Sicherheitsgarantie. Für mich der pure Stress, vielleicht nicht einmal erstrebenswert, sogar irgendwie unsympathsch. Ich war gerne mit ihr, bewunderte und liebte sie, begleitete sie gerne in ihre schöne Welt. Und ich spürte ihren Schmerz, ihre Liebe und ihre Kraft. Gleichzeitig fiel es mir immer schwerer, in ihrer Gegenwart ich zu sein, zu dem zu stehen, was ich immer mehr wurde. Es war offensichtlich, dass wir grundverschieden waren.

Im Laufe der Jahre wurde ihre Unzufriedenheit mit meinem Lebensweg immer größer. Unsere Treffen wurden seltener. Aus dem liebevollen Willen, mich um sie zu kümmern, wurde eine anstrengende Pflicht. Unsere Verbundenheit war bis zum Zerreissen gespannt. Als ich versuchte, ihr zu erklären, dass mein Weg nichts mit ihr zu tun hatte, und ich ihn gehen musste, auch wenn er ihr nicht gefiele, trotz aller Liebe, kappte sie unsere Verbindung mit einem einzigen verletzenden Satz. Nur Wochen nach unserem einschneidenenden Gespräch kam sie ins Krankenhaus, sie rief mich nicht an, sie war immer davon ausgegangen, dass es meine Pflicht war, sie anzurufen, egal in welcher Lebenslage. Glücklicherweise rief mich ein Bekannter an, der um unsere Nähe wusste. Ich fuhr zu ihr, sie war schon sehr weit weg und nicht mehr ganz zu fassen. Ich saß ein paar Stunden an ihrem Bett, hielt ihre Hand, befeuchtete ihren trockenen Mund mit Zitronenstäbchen, fühlte Zerrissenheit und Liebe. In der selben Nacht starb sie. 

Bei ihrem Begräbnis erzählte mir ihre engste Freundin, dass sie die Tage gezählt hatte, an denen ich nicht angerufen hatte, und immer genau wusste, wie viele Tage ich schon einen Anruf schuldig geblieben war.

Ein Geschenk

Jahrelang hatte ich schlechtes Gewissen. War ich am Ende nicht genug da gewesen? Hätte ich trotz aller Differenzen jeden Tag anrufen sollen? War ich unserer Beziehung gerecht geworden? War ich so gut, wie ich gerne wäre? Das war der Stoff meiner schlaflosen Nächte. Und irgendwann kam „frei“. Wie ein Geschenk. Langsam, langsam. „Frei schwebend in der Ewigkeit, ganz ohne Zeit, nichts zu verlieren; die Tage sind jetzt namenlos, sie lassen dich in Ruhe ziehen“ Ich dachte an sie als leuchtendes erleichtertes Wesen, endlich befreit von dem engen Korsett ihres Lebens.„Hier gibt’s kein Missverständnis mehr, enttäuschte Wut hat sich erübrigt, und nichts was zu bedauern wär, kein richtig und kein Falsch kein Bös kein Gut“ Ich dachte an die Leichtigkeit, die sie im Leben kaum gehabt hatte. „Dein Ärger hat sich aufgelöst, und alte Schuld verhallt; niemand, dem du noch böse bist, Gleichgültigkeit überall“. Wie anstrengend es für sie gewesen sein muss, ihr System aufrecht zu erhalten, alte Schule, Fleiß, Ehrgeiz, Härte sich selbst gegenüber. Aber auch Humor. Sie war humorvoll. Es war ein böser, lustiger Humor. Und wer ihn nicht hatte, war unten durch. „Du bist frei, endlich frei, du bist frei, ohne Schmerz und ohne Leid“ Sie hatte solche Schmerzen gehabt, und sich nie beklagt, nicht gejammert. Nur ganz selten. Meistens war der Schmerz übertüncht von Wut. Verständlich, wer je chronische Schmerzen hatte, weiß, wie verständlich. „Du bist frei, endlich frei, du bist frei, ohne Ehrgeiz ohne Neid“. Nichts mehr erreichen müssen, loslassen dürfen. Freiheit. 

„Noch mitten in der Endlichkeit, für mich wird’s Zeit, dich loszulassen, ich hab mich lang genug gefragt, was kann ich denn noch tun, um’s gut zu machen“ das war ein langer Prozess, das Hirn ist ja immer schneller als der Rest unseres Selbst. Das Lied hat geholfen. Und am Ende konnte ich singen, und wissen: „Ich bin frei, endlich frei, ich bin frei, ohne Pflicht und ohne Eid. Ich bin frei, endlich frei, ich bin frei, ohne Ehrgeiz der nicht mein. Ich bin frei. Frei von schlechtem Gewissen, frei von ungewussten Pflichten, frei, ich bin frei, frei von deinem Erwarten, frei von meinem Enttäuschen, frei, ich bin frei“

Bis heute zehre ich von allem, was ich von ihr und durch sie gelernt habe. Ich habe in Gedanken an sie viel geweint, viel gewütet, viel gelacht. Ich bin ihr dankbar. Ohne sie wäre ich heute nicht die, die ich bin. Alles, was ich in diesem Lied singe, wünsche ich ihr. Du bist frei, endlich frei.

Das Video der wunderbaren Carola Schmidt mit Bildmaterial aus einer Zusammenarbeit mit Euforia & Herbst

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